Donnerstag, 27. Juli 2017

»Antiimperialismus« - Kritische Überprüfung eines historischen Konzeptes.

Ein stets wiederkehrender Begriff bei der Analyse der internationalen Beziehungen aus linker Perspektive ist der des „Imperialismus.“ Als besonders problematisch ist jedoch die Ungenauigkeit des Imperialismus-Begriffs in Verbindung mit seinem inhaltlichen Dogmatismus anzusehen. Der vorliegende Beitrag wird daher versuchen zunächst kurz die Ursprünge und Inhalte des Imperialismus-Begriffs darzulegen. Ausgehend von seiner historischen Entwicklung und seines Pendants, des „Antiimperialismus“ sollen daraufhin ihre zentralen Unzulänglichkeiten erörtert und kritisiert werden.



Ausgangspunkt des Konzepts des Antiimperialismus ist Lenins Theorie vom „Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus.“ Dieses theoretische Konzept entstand im breiteren Kontext von Lenins Beschäftigung mit den Prämissen und Triebkräften staatlicher Außenpolitik während seines Exils in der Schweiz. Er studierte in dieser Zeit insbesondere das Werk Generals Carl von Clausewitz sowie dessen Rezeption durch Friedrich Engels und die deutsche Sozialdemokratie. Die zentrale These von Clausewitz’ monumentaler Abhandlung „Über den Krieg“ war, dass der Krieg lediglich die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei und daher den Prämissen der Politik untergeordnet sei. Krieg hätte demnach keine Eigenlogik und würde stets begrenzten Zielen folgen, die durch die Politik vorgegeben werden.[1] Da Lenin Politik als Ausdruck des materialistischen Überbaus der Gesellschaft wahrnahm, folgerte er daraus, dass das Mittel des Krieges, aber auch die Außenpolitik im Allgemeinen, letztlich durch den Klassengegensatz bzw. den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit bestimmt seien. Daher ergaben sich für ihn im Wesentlichen zwei Konfliktformen in den internationalen Beziehungen: der „klasseninterne“ Konflikt zwischen den kapitalistischen Eliten verschiedener Länder und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Klassen.[2] Während Konflikte zwischen unterschiedlichen Klassen Ausdruck des Kampfs um den Fortschritts (oder auch Rückschritts) der Geschichte darstellten, waren die Auseinandersetzungen zwischen den kapitalistischen Eliten das Ergebnis eines spezifischen Stadiums des Kapitalismus, nämlich des Imperialismus. Für Lenin war der Imperialismus gekennzeichnet durch die wachsende Konzentration des Kapitals und der politischen Macht in den Händen einzelner monopolistischer Akteure. Aus dem verschärften Konkurrenzkampf um begrenzte Ressourcen, Absatzmärkte und Territorien folgte demnach eine wachsende gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den führenden Industrienationen. Äußern würde sich diese zunächst in kolonialen Eroberungskriegen, bis sie nach der Aufteilung der gesamten Erde in einem abschließenden Höhepunkt gipfeln würde. Im Ersten Weltkrieg sah er diesen erreicht. Lenin schlussfolgerte, dass sich die europäischen Mächte im Laufe des Krieges immer weiter erschöpfen würden, da durch die Anwendung gleicher Kampftechniken und den besonders hohen Mobilisierungsgrad der betroffenen Länder kein entscheidender Sieg einer Seite zu erzielen sei. Die dauerhafte und nahezu vollständige Mobilisierung würde aber langfristig die Bevölkerungen der europäischen Staaten auszehren und der Charakter des Krieges an einem bestimmten Kulminationspunkt umschlagen. So würden die Soldaten und die Zivilbevölkerung in Anbetracht der fortschreitenden Entbehrungen die Gefolgschaft gegenüber ihren Staatsführungen verweigern. Unterstützt durch die Agitation der kommunistischen Widerständler_innen würde sich der Weltkrieg in den Auftakt zur Weltrevolution wandeln.[3]
Nachdem sich diese Annahme mit den weitgehend erfolglosen Revolutionen und dem Ende des 1. Weltkriegs 1918 nicht bestätigte, wandelt sich das Imperialismus-Konzept fortschreitend in einen inhaltsleeren, manichäischen Kampfbegriff. Aufgrund der politischen Isolation der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren diente der Begriff Stalin zur langfristigen Mobilisierung der sowjetischen Bevölkerung und zur Konstruierung eines dauerhaften Bedrohungsszenarios, demzufolge die Sowjetunion ständigen politischen Attacken sowie einer potentiellen militärischen Intervention des Westens ausgeliefert sei. An dieser Stelle bildete sich ein weiteres Element des modernen „Antiimperialismus“ heraus, nämlich der Gedanke einer allumfassenden Verschwörung der „kapitalistischen Staaten“ zur gemeinsamen Beherrschung der Welt. Einen vorläufigen Höhepunkt dieses Verschwörungsdenkens bildeten die Schauprozesse gegen die politische Führung der Sowjetunion. So wurde den Angeklagten im Verlauf der Prozesse, je nach außenpolitischer Lage, wahlweise „imperialistische Spionagetätigkeit“ für Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Japan oder Nazideutschland vorgeworfen.[4] Dies setzte sich fort, als die sowjetische Führung nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito zunächst die Föderative Volksrepublik Jugoslawien als „imperialistische Verräter“ brandmarkte. Im Gegenzug erhob später die Volksrepublik China den gleichen Vorwurf gegen die Sowjetunion.
Außerhalb des offiziellen Sprachgebrauchs der realsozialistischen Staaten, erhielt die Imperialismustheorie erneuten Auftrieb in der westeuropäischen Linken durch die Entkolonialisierung in den 1960er Jahren. Deren Interpretation zufolge diente die Entkolonialisierung lediglich einer Verschleierung der politischen Interessen der westlichen Staaten, die die neuen Staaten Afrikas und Asiens auch weiterhin in ihrem Würgegriff halten würden. So sollten die ehemaligen Kolonien durch die Etablierung einer asymmetrischen internationalen Wirtschaftsordnung langfristig zur Preisgabe ihrer Ressourcen gegen ungleiche Entlohnung gezwungen werden. Regime die sich diesem Druck zu entziehen versuchten, würden durch direkte militärische Interventionen oder die Finanzierung von Putschen gestürzt werden. Zusätzlichen Aufschwung erhielten „antiimperialistische“ Konzepte mit dem Ende der bipolaren Weltordnung. Während der Ost-West-Konflikt vielen Linken zumindest eine Auseinandersetzung mit den Interessen der Sowjetunion bei deren Unterstützung der Staaten der Dritten Welt abverlangte, vereinfachte ihr Zusammenbruch dieses Problem. Fortan verblieb nur eine Supermacht bzw. ein politisch bestimmender Block, wodurch sich jeder Interessengegensatz zwischen dem „Westen“ und den verbleibenden Staaten in einen einfachen „antiimperialistischen“ Erklärungsansatz einbinden lies.
Das zentrale Problem bei der heutigen Anwendung der Imperialismustheorie ist jedoch, dass sie unter spezifischen historischen Umständen entstand und allein zur Erklärung dieser Zustände entworfen wurde. Dementsprechend besaß sie für den Ersten Weltkrieg, anhand dessen Lenin sie entwickelte, durchaus einen gewissen Erklärungscharakter. Diese Relevanz ging allerdings mit den Veränderungen der internationalen Beziehungen im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren. Zudem wurde versucht, diesen Verlust an analytischer Erklärungskraft durch strengere Dichotomisierung und die fortschreitende Wandlung in einen politischen Kampfbegriff zu kompensieren. Bedingt durch die Mischung dieser beiden Faktoren lassen sich im Wesentlichen drei inhaltliche Unzulänglichkeiten der heutigen Imperialismusverständnisse und des an sie angelehnten „Antiimperialismus“ konstatieren.

Erstens können sie keine zureichende Erklärung für den Holocaust liefern. Stattdessen eignen sich „Antiimperialist_innen“ hierfür häufig die traditionelle Geschichtsinterpretation der Ostblockstaaten an. Nach diesem Verständnis war der Nationalsozialismus lediglich der Ausdruck eines allgemeinen Aufstiegs des Faschismus während der Zwischenkriegszeit bzw. eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Jüdinnen und Juden Europas stellten demnach auch nur eine einzelne Opfergruppe innerhalb eines breiter angelegten traditionellen Nationalismus, nicht aber die zentrale Zielgruppe des nationalsozialistischen Vernichtungswilllens dar. Eine Anwendung der Imperialismustheorie auf den Nationalsozialismus neigt daher in vielen Fallen zur Negierung des einmaligen Charakters der Shoah und verneint den aus ihr resultierenden historischen Bruch innerhalb der Menschheitsgeschichte. Dies führt zudem zu einem zentralen Problem bei der Rezeption der aktuellen internationalen Beziehungen. So neigen viele Linke und „Antiimperialist_innen“ zu völlig unzulässigen Vergleichen zwischen dem Nationalsozialismus und der Politik der westlichen Staaten, insbesondere der Vereinigten Staaten und Israel. So lassen sich bspw. Vergleiche der Situation im Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto oder eine Gleichsetzung der Ereignisse in Gefangeneneinrichtungen wie Guantanamo mit dem Vorgehen der Gestapo konstatieren.

Zweitens ist die Erklärungskraft der Imperialismustheorie für die Entstehung moderner Konfliktursachen und -formen als völlig unzureichend anzusehen. So ziehen die Imperialismustheorie und auch der „Antiimperialismus“ keine Trennung zwischen dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und dem Auftreten von Vernichtungsideologien im 20. Jahrhundert. Die Ausbrüche brutalster Gewalt in Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien, Darfur und der Dschihad in Syrien und Irak können durch sie lediglich auf rein ökonomische Faktoren reduziert werden. Gerade in Konflikten, in denen einzelne oder mehrere Parteien die vollständige physische oder kulturelle Auslöschung ihrer Gegner anstreben, geht das begrenzte politische Ziel, das Lenin als Triebkraft für Konflikte zugrunde legte verloren. Stattdessen tritt eine irrationale, apokalyptische Zukunftsvision in den Vordergrund, in der das geringste Fortbestehen des Gegners mit dem eigenen unvermeidlichen Untergang gleichgesetzt wird. Hiermit einher geht eine traditionelle einseitige Parteinahme für die Regime der Entwicklungsländer bzw. die in ihnen aktiven „Befreiungsbewegungen“. Insbesondere bei Auseinandersetzungen mit westlichen Staaten wird diesen Ländern bzw. Gruppierungen aufgrund des Negativbildes der Industrienationen automatisch eine positive Zielsetzung zugeschrieben. Die individuellen Bestrebungen der Konfliktparteien werden dabei, unabhängig vom Einzelfall, bedingt durch das dichotome Einteilungsschema (imperialistisch vs. progressiv), nicht hinterfragt. Als besonders plumper Ausdruck dieser verkürzten Konfliktwahrnehmung ist die Solidarisierung vieler „Antiimperialist_innen“ mit terroristischen Gruppierungen, wie der Hamas, der Hisbollah oder sogar dem Islamischen Staat zu werten.[5] In derartigen Fällen werden die genannten Organisationen, bzw. die Bevölkerung, die sie vermeintlicher repräsentieren, als Opfer „imperialistischer Aggression“ seitens der USA, der NATO oder der westlichen Staaten im Allgemeinen wahrgenommen. Um das brutale militärische Vorgehen dieser Gruppen zu rechtfertigen, findet bei der Interpretation solcher Konflikte eine gefährliche Verdrehung von Mittel und Zweck „asymmetrischer Kriegsführung“[6] statt. So wird die Anwendung terroristischer Akte (Selbstmordanschläge, Geiselnahmen, Ermordung von Zivilisten), aufgrund der militärischen Überlegenheit des Gegners als „notwendiges“ Mittel zur Erreichung der Befreiung von der „imperialistischen Unterdrückung“ künstlich rationalisiert. Die Tatsache, dass (insbesondere bei islamistischen „Befreiungsbewegungen“) die völlige Vernichtung des Gegners das eigentliche Ziel des bewaffneten Widerstandes ist und die „nationale Befreiung“ lediglich als Mittel der Mobilisierung von Unterstützung dient, wird von vielen „Antiimperialist_innen“ schlichtweg nicht beachten oder sogar geleugnet.

Eine ähnlich schwache Form der „Uminterpretierung“ der ursprünglichen Imperialismustheorie ist anhand eines dritten Punkts beobachtbar. So läuft die verstärkte internationale Kooperation der westlichen Industrienationen Lenins Annahmen über die Entwicklung internationaler Politik entgegen. Der Imperialismustheorie zufolge, müsste eine völlig gegenteilige Entwicklung, nämlich ein Zerfall der alten Bündnisstrukturen des Kalten Krieges und eine wachsende politische Konfrontation zwischen den führenden Industrienationen sichtbar sein. Da sich diese „Prophezeiung“ nicht bewahrheitet hat, wird von „Antiimperialist_innen“ eine stark von Verschwörungstheorien beeinflusste Konspiration der Staaten des Nordens konstruiert. Demnach versuchen die „imperialistischen“ Staaten gemeinsam, aus Gründen der Effizienz, die Staaten des Südens zu dominieren und über verschiedene internationale Organisationen und Knebelverträge auszubeuten. Durch diese geschickte „Erweiterung“ der ursprünglichen Theorie wird es möglich, sowohl das kooperative Vorgehen der westlichen Staaten als konfrontatives internationales Handeln auf denselben Interessenursprung zurückzuführen und damit stets „imperialistische“ Bestrebungen unterstellen zu können.

In Anbetracht der genannten Punkte wäre ein Überdenken des Imperialismus-Konzepts durch die europäische Linke entscheidend und wünschenswert, um eine progressive Konfliktanalyse und damit auch potentielle Konfliktbehebung zu liefern. Dies ist jedoch aufgrund des Charakters „antiimperialistischer“ Konzeptionen leider nicht zu erwarten. Durch die dargestellte Veränderung des Imperialismus-Begriffs im Laufe des 20. Jahrhunderts, besitzt dieser keinerlei analytischen Charakter und eignet sich daher aber besonders gut, um die Komplexität der internationalen Beziehungen zu reduzieren und eine uniforme (aber letztlich inhaltsleere und ungenügende) Erklärung dafür anzubieten. Es geht dabei nicht darum, mögliche Benachteiligungen der afrikanischen und asiatischen Staaten in der internationalen Politik bzw. die teilweise Entstehung von Kriegen aus wirtschaftlichen Gründen zu leugnen. Wohl aber ist die vereinfachte Ursachenreduzierung, wie sie in „antiimperialistischen“ Analysen stattfindet, nicht geeignet, um die Ursprünge kriegerischer Auseinandersetzungen aufzulösen bzw. deren Opfern eine angemessene Form der Gerechtigkeit im Sinne einer umfassenden Aufarbeitung zukommen zu lassen.


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[1] - Vgl. Clausewitz, Carl von (2005 [1832/34]): Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Frankfurt a.M./Leipzig, S. 26ff. und S. 38ff.
[2] - Vgl. Leonhard, Wolfgang (1962): Sowjetideologie heute, Bd. 2: Die politischen Lehren, Frankfurt a.M./Hamburg, S. 88f und S. 94f.
[3] - Ebd. S. 91f.
[4] - Bezeichnend hierfür sind bspw. die jeweiligen Ausführungen in der offiziellen Parteigeschichte der KPdSU von 1945. Vgl. KPdSU (1950): Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang (= Bücherei des Marxismus-Leninismus, Bd. 12), 5. Aufl., Berlin, S. 352ff., S. 364f., S. 406ff. und S. 431f.
[5] - Zur antiimperialistischen Querfront siehe die Rede des Generalsekretärs der Marxistisch-Leninistischen Partei Italiens, Giovanni Scuderi, vom Oktober 2015: "The Islamic State does not want imperialism to be the master of Iraq, Syria, Middle East, North and Central Africa, Afghanistan and Yemen. We do not want it either, therefore we cannot but support it. [...] An immense gulf divides us from the Islamic State in the spheres of ideology, culture, tactics and strategy, and we do not agree with all its fighting methods, actions and goals. But we have an essential point in common—the unwavering struggle against imperialism. This point at the moment transcends any other difference that may exist, and it is the pivot of our de facto anti-imperialist alliance." Vgl. http://pmli.it/articoli/2015/20151015_scuderiletussupporttheislamicstate.html ; zuletzt überprüft am 25.07.2017.
Ebenfalls aufschlussreich sind die Verlautbarungen der trotzkistischen Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands. Vgl. http://www.icl-fi.org/deutsch/spk/206/syrien.html ; zuletzt überprüft am 25.07.2017.
[6] - Unter „asymmetrischer Kriegsführung“ wird die Verwendung von Kampftaktiken und Kriegsmitteln subsumiert, die vom internationalen Volker- und Kriegsrecht nur bedingt gestattet oder teilweise untersagt werden. Beispielhaft hierfür sind der Einsatz von Partisanen, der Gebrauch „menschlicher Schutzschilde“, die Nutzung ziviler Anlagen für militärische Zwecke und umgekehrt die Attackierung ziviler Ziele zu militärischen Zwecken.

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